Bewusstsein Teil 9 Systemtheorie Grundlagen

Autopoiesis

Niklas Luhmann ein deutscher Soziologe geboren 1927 hat in den späten 1970er Jahren die System- Theorie fertiggestellt. Seine Motivation war es ein Instrumentarium zur Verfügung zu stellen mit dessen Hilfe man Gesellschaften, egal welche Orientierung, analysieren konnte. Im Gegensatz zu Karl Marx hat er nicht die Intention die Gesellschaft zu verändern. Karl Marx wollte mit seiner Theorie eine gerechtere Welt schaffen. Er ging dabei von dem Ansatz der Gleichberechtigung aus. Im Speziellen hatte er die Produktionsmittel im Fokus. Dieses sollte seiner Meinung nach nicht dem Kapital, sondern der Allgemeinheit gehören. Dieser Gedanke ist in der Sowjetunion auf fruchtbaren Boden gefallen. Es kam zu einer Revolution. Diese führte einerseits sehr wohl zu einer Sozialisierung von Produktionsanlagen und andererseits aber kam es zu einer Zentralisierung der Macht.

Trotzdem hat die Luhmann‘sche Systemtheorie die Gesellschaft verändert. Dies Insofern als beinahe in jedem wissenschaftlichen Bereich systemische Methoden zum Einsatz kommen. Eine besondere Note hat diese in der Psychotherapie in Form der systemischen Therapie erfahren. Manche Begriffe aus der Systemtheorie sind heute in Alltagssprache übergegangen. Dass ein Computer ein Betriebssystem benötigt, ist für jeden klar wenn auch nicht verständlich. Andere Begriffe wie beispielsweise die Autopoiesis, die Kopplung oder die Selbstreferenz sind nicht so gebräuchlich.

Grundsätzlich geht Luhmann von drei verschiedenen Systemen aus. Das sind die Organismen, die Kommunikation und die Psyche.  Ob nun wie in Abbildung 1 dargestellt das Digitale auch ein Grundtypus eines Systems darstellt ist noch nicht geklärt. Dazu wird es notwendig sein die Theorie darauf anzuwenden. Im Zentrum aller System Typen steht der Mensch. Wobei hier Mensch nicht als biologisches Wesen zu verstehen ist, sondern der Sinn, der den Menschen begleitet. Sinn ist dabei ein Ordnungsbegriff, der für Orientierung sorgt und Systeme untereinander verbindet. Neue Systeme entstehen dann, wenn ein Bedürfnis an höherer Ordnung vorliegt. Der Mensch ist also Schnittstelle zwischen den Systemen, die durch Sinnhaftigkeit entstehen und durch Beobachtung erkannt werden.

Abbildung 1

Differenzierung

Ein System ist eine geschlossene Einheit von artgleichen Elementen (Abbildung 2A). In einem System von z.B. Legosteinen hätte dann ein Holzwürfel nichts verloren. Dieser würde dann dem System von Holzspielzeugen angehören. Systeme setzen die Existenz einer Umwelt voraus und unterscheiden sich von dieser. Noch deutlicher gesagt Systeme entwickeln sich durch den Zusammenschluss von in der Umwelt existierender Elemente zu einer höheren Ordnung. So sind Systeme Komplexität reduzierend, obwohl sie selbst komplexer sind als die Umwelt. Eine wesentliche Eigenschaft von Systemen besteht in deren Differenzierung zur Umwelt. Was sich von den Typen der Elemente und deren Konstellation unterscheidet gehört nicht zum System, sondern zur Umwelt. Meistens ist diese Differenz also die Grenze zwischen Umwelt und System deutlich erkennbar. Manches Mal wie das Beispiel eines Chamäleons zeigt passt es seine Hautfarbe an die Umgebung so gut an, dass man die Grenzen seines Organismus nur schwer erkennt. Als äußerst mögliche Umwelt wird die “Welt” an sich bezeichnet, weil es außerhalb keine Elemente mehr gibt aus denen ein System entstehen könnte.

Abbildung 2

Systeme zeichnen sich auch durch deren operative Geschlossenheit aus. Elemente aus dem System können nicht auf Elemente der Umwelt direkt Einfluss nehmen selbst dann nicht, wenn sie artgleich gebaut sind.  Auch können Elemente nicht unmittelbar aus dem System in das Umfeld wechseln oder umgekehrt. Ein Feuerwehrmann kann nicht, obwohl er eine Uniform trägt, nicht ohne weiteres in das System der Polizei wechseln. Schon gar nicht kann ein Mensch direkt die Gedanken eines anderen kennen.

Die operative Geschlossenheit bedeutet aber keineswegs eine hermetische Abriegelung. Völlig isolierte Systeme würden aussterben. Dieser Methodik haben sich Kriegsherrn immer wieder bedient, um feindliche Systeme auszuhungern. Ohne Energiezufuhr ist ein System nicht überlebensfähig. So sind Systeme für die zu- und abfuhr von Materie und Energie offen. Der Organismus Tier braucht die Nahrung sowie ein Unternehmen das Geld braucht. Weiters sind System offen für Signale aus der Umwelt. Sofern diese den Erwartungen entsprechen, laufen interne Prozesse in den gewohnten Strukturen ab. Sollten aber unterschiedliche Signale eintreffen, also Irritationen stattfinden muss sich das System mit seinen Strukturen und Prozessen anpassen. Andererseits besteht eine existenzielle Gefahr. Broker achten auf Kaufsignale am Aktienmarkt, Unternehmen auf Marktsignale und Dating Kandidaten auf Näherungs-Signale.

Signale sind nicht gleich mit Information zu setzen. In diesem Artikel wird diesbezüglich eine strenge Unterscheidung getroffen, auch wenn Luhmann die beide Begriffe oft synonym verwendet. Ein irritierendes Signal also ein Differenziertes erzeugt im System einen Unterschied, es muss anders reagieren. Genau dieser Unterschied, den das System dann macht, wird als Information bezeichnet. Information kann nie von der Umwelt kommen, sondern wird immer nur im System erzeugt. Jeden Tag um genau sieben Uhr läutet bei mir der Zeitungsausträger. Nur heute hat es nicht geläutet; ich bin irritiert. In meinem Kopf ist die Information entstanden, dass: “keine Zeitung da”. Wenn jeden Tag die Zeitung kommt, sowie täglich die Sonne aufgeht ist das keine Information. Nach Informationstheorie haben solche Ereignisse einen Informationsgehalt von 0 bit. Irritationen führen Veränderungen herbei während Bestätigungen eine Kontinuität ermöglichen.

Die Differenzierung ist der wesentliche Aspekt der Systemtheorie. Ein System mit Elementen differenziert sich von seiner Umwelt. Die Grenzen sind die Differenz. In Abbildung 2B ein Unternehmen, ein organisches System, dessen Umfeld der Markt ist und dessen Elemente die einzelnen Abteilungen sind. Unternehmen reorganisieren sich auf Grund von Marktsignalen selbst, auch wenn ein Unternehmensberater hereingeholt wird.  Das wahrscheinlich komplexeste System, die menschliche Psyche, liegt im Umfeld der Kommunikation und setzt sich aus den Elementen der Gedanken zusammen (Abbildung 2C). Die Psyche ist das beste Beispiel für die Differenzierung. “Meine Gedanken gehören nur mir”. So weiß der Leser nicht was ich mir beim Schreiben dieses Artikels denke. Sie machen sich ihre eigenen Gedanken und diese unterscheiden sich eben von Meinen.

Autopoiese

Wenn Luhmann von Systemen spricht, hat er zuallermeist Autopoietische im Sinn. Systeme deren Elemente ausschließlich von Elementen erzeugt werden, aus denen sie bestehen. Prototyp dafür ist das Leben. Nur Leben kann leben erzeugen. Eine andere Möglichkeit gibt es zumindest bis jetzt nicht. Derartige Systeme tun das poietisch = handelnd und automatisch, ohne dabei auf Andere angewiesen zu sein. Dazu ist es erforderlich, dass sich die Elemente auch selbst erhalten können (Abbildung 3A). Selbsterhaltend und selbst erzeugend sind die Merkmale eines autopoietischen Systems. Um Katzen zu bekommen, braucht es nur Katzen in einem vitalen Umfeld. Gedanken der Psyche erzeugen sich ständig neu genauso wie sich Zellen im Körper laufend erzeugen. Beide basalen Einheiten erzeugen sich selbst und verschwinden / sterben wieder. Damit ist die Reproduktion im System geregelt. Man kann nur einen Gedanken denken, obwohl es unendlich viele gäbe. Gerät das Zellwachstum außer Kontrolle so sprechen wir von Krebs.

Der menschliche Organismus ist heute nicht mehr so geschlossen, wie es ein autopoietisches System vorgibt sein zu müssen. Mit Bluttransfusionen, Hüftgelenken oder Organtransplantationen kommen Zellen in den Körper, die nicht von ihm selbst erzeugt wurden (Abbildung 3C). Demnach muss es auch noch eine andere Art von Systemen geben und das sind die Allopoietischen. Systeme bei denen die Reproduktion und die Erhaltung seiner Elemente auf Fähigkeiten (Prozesse) angewiesen sind die außerhalb des Systems liegen. Ein Automobil entsteht nicht aus eben diesem, sondern ist auf Maschinen, Roboter, Ingenieure, usw. angewiesen.

Abbildung 3

Seit 2019 ist ein allopoietisches System in aller munde; genannt Covid19. Viren sind keine Lebewesen, weil sie sich weder selbst erhalten noch sich aus selbst heraus fortpflanzen können. Sie brauchen dazu immer ein anderes System; ein Lebewesen, einen Wirt. Die Fortpflanzung eines Virus ist nur in einem lebendigen Körper möglich. Obwohl existieren können sie auch kurzfristig außerhalb des Lebendigen. Viren sind genauso wie Lebewesen zur Mutation fähig. Evolutionär sichert genau das den Lebewesen ein Überleben in einer sich verändernden Umwelt. Genau das tut auch ein Virus. Sollte sein Umfeld durch Impfung abweisender werden so mutiert es und kann weiter existieren. Impfungen verändern das Umfeld eines Virus viel schneller als es die natürliche Immunreaktion tut. Damit hat es auch den Bedarf einer schnellen Anpassung. Wie das Delta und Omikron Ausprägungen zeigt werden sie für den Menschen auch immer gefährlicher. Sofern das stimmt, hätte man jetzt ein wissenschaftliches Argument gegen Impfung. Bei Kinderlähmung war es nicht so!

Die Elemente von autopoietischen Systemen erzeugen sich selbst, rekursiv und mutierend. Darüber hinaus sind sie in der Lage sich selbst zu organisieren. Strukturen aufzubauen und Fähigkeiten zu entwickeln die im einzelnen Element nicht erkennbar ist. So ist in einer Gehirnzelle kein Gedanke zu finden, in einer Zelle keine Leber und in einer Abteilung keine Firma. Das Ganze, ein System ist immer mehr als die Summe seiner Teile. Es hat emergente Eigenschaften.

Künstliche Autopoiese: Zu Zeiten Luhmanns waren künstliche autopoietische Systeme kaum vorstellbar. Erst das Star Wars Epos mit seinen Clone und Droiden rückte solche Wesen ins Fiktionale. Mit der heutigen Digitaltechnik ist eine Realisation schon denkbarer.  Nehmen wir an (Abbildung 3B), man würde einen 3D Drucker so konstruieren, dass er unter anderem auch sich selber drucken könnte. Sofort käme es zu einer exponentiellen Verbreitung. Dessen Grenzen wären nur der Platzbedarf, der Strom und das Material für die Druckerpatrone. Für den Aufbau einer Infrastruktur auf Mond oder Mars eine sehr effiziente Methode. Allerdings müssten sie die Selbstreproduktion ab einer gewissen Populationsdichte beenden und Brauchbares erzeugen. Der Exit in einem rekursiven Prozess ist Programmieren und Informatikern schon längst bekannt. Die Simulation der “Türme von Hanoi” ist im Prinzip nur ein Programm (Algorithmus) der einmal gestartet sich so lange selbst aufruft, bis das Problem gelöst ist. Ein autopoietisches System kann so einen Punkt erkennen und sich selbst auflösen.

Mixed Poiese: Neben dem oben erwähnten Hüftgelenk (Abbildung 3C) gibt es noch viele weitere künstliche Einbauten, die das Leben vereinfachen oder überhaupt ein Weiterleben ermöglichen. Ein künstliches Herz oder der Neuralink, eine Gehirnerweiterung an der Elon Musk arbeitet wären solche Beispiele. Heute noch Fiction aber schon denkbar. Es stellt sich die Frage ab welcher Schwelle man dann nicht mehr von einem biologischen Organismus (autopoietisch) sondern von einem Cyborg (mixedpoietisch) sprechen muss. Ein Mensch mit derartigen Erweiterungen könnte sich dann nicht mehr aus sich selbst heraus fortpflanzen, sondern braucht dazu immer fremde Hilfe und ist damit eben nicht mehr autopoietisch. Etwas weniger Science-Fiction und schon Realität ist die In-vitro-Fertilisation Eine Fortpflanzung, die nur durch technischen Eingriff möglich war

Interessant wäre, wie Luhmann derartige Entwicklungen im Rahmen der Systemtheorie eingeordnet hätte.  Es ist denkbar, dass die Systemtheorie einer Revision bedarf. Das schon allein wegen der Fortschritte in der Quantenmechanik. Wo sich Systeme entgegen allen Erwartungen aus der makroskopischen Welt zeigen.

Strukturen und Prozesse:

Abbildung 4

Nach systemischer Theorie ist eine Struktur (Abbildung 4A) ein Muster, welches die Reproduktion von Elementen einschränkt (EXCLUSION). In Anlehnung an Edwin Abbott stellen wir uns ein Schachbrett vor. Dort leben die Flächenländer und sie können sich in Form von quadratischen, kreisförmigen oder dreieckigen Plättchen fortpflanzen. Ihre Aufgabe ist es das Schachbrett möglichst flächendeckend auszufüllen. Die Wahrscheinlichkeit das quadratische Plättchen Anschluss finden ist sehr wahrscheinlich, weil dadurch das Schachbrett am effizientesten gefüllt wird. Die Fortpflanzung von Kreisen ist sicher möglich führt dabei aber nicht zu einer gänzlichen Flächendeckung. Sehr unwahrscheinlich ist das Auftreten von Dreiecken, weil dadurch maximal die Hälfte des Schachbretts befüllt würde.

Ein ähnliches Phänomen kann man in der Natur bei den Bienenvölkern erkennen. Der Mensch gibt Ihnen durch die Waben eine künstliche, sechseckige Struktur vor. Wie wir wissen, bauen Sie darauf ihre sechseckigen Honigspeicher auf. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass sie darauf zylinderförmige Strukturen setzen. Strukturen führen insofern zu einer Ordnung als nur bestimmte Elemente wahrscheinlich sind. Eine Beliebigkeit ist dabei ausgeschlossen.

Aktuell wird die Diskussion, ob Kernkraft zu den grünen Technologien zählt oder nicht geführt. Erreicht so eine Meldung ein Energieunternehmen so ist dessen Struktur so geartet, dass dieser Gedanke sehr leicht Anschluss findet. Die gleiche Meldung führt bei Umweltorganisationen zu völliger Ablehnung, weil deren Struktur das keinesfalls erlaubt. Obwohl beides organische Systeme sind reagieren sie unterschiedlich, jeweils mit ihrer internen Logik entsprechend.  Systeme entscheiden selbst welche Elemente Anschluss finden oder nicht. Adäquate Elemente finden leichter Anschluss, während der Anschluss von unpassenden Elementen sehr unwahrscheinlich bis zu ausgeschlossen ist. Damit schützen sich Systeme vor Infiltration. Besonders autoritäre Systeme haben Angst vor Infiltration, weil dadurch Elemente in ihre Struktur kommen die Selbige verändern und in weiterer Folge eine Fortpflanzung von artfremden Wesen ermöglicht.  Was dann wiederum die eigene Struktur zerstören aber zumindest verändern würde. Strukturen verändern sich jedoch nicht aus sich selbst heraus sondern benötigen dazu Prozesse.

Strukturen stabilisieren Systeme. Erst wenn es durch Irritation, meist umweltbedingt, zu Störungen kommt starten Prozesse die es andersartigen Elementen (INCLUSION) ermöglichen sich fortzupflanzen. Die Automobilindustrie erfährt derzeit störende Signale aus dem Markt. Offensichtlich werden Autos mit Alternativantrieb mehr nachgefragt als Verbrenner. Diese können jedoch nicht in den bestehenden Strukturen produziert werden. Daher wurden Restrukturierungs-Prozesse in Gang gesetzt, deren Folge neue Strukturen sind, die es dann wiederum dem System ermöglichen adäquat zu produzieren. Ein Automobilkonzern muss mit seinen Produkten Anschluss finden, weil sonst das System stirbt. Es bekommt nicht mehr genug Energie, um das Weiterbestehen zu sichern.

Für Strukturänderung müssen Signale aus der Umwelt richtig gedeutet werden und mit Energie prozessiert werden. Eine Unternehmensreorganisation kostet meistens sehr viel Geld. Firmen wären also gut beraten sich dafür ein Polster zu schaffen als Dividenden zu zahlen. Überleben ist in einer kurzlebigen Zeit wichtiger als Gewinnmaximierung. Unternehmen wie Blackberry, Nokia oder Schlecker hätten durchaus das nötige Kapital für eine Strukturänderung gehabt, allerdings die Marktsignale falsch gedeutet. “Wer würde den schon ein iPhone verwenden und damit sogar online einkaufen

Gedanken sind auch Elemente deren Fortpflanzung von einer Struktur, der Denkstruktur abhängen. Auch hier zeigt sich, dass Irritationen das effizienteste Mittel, um Veränderungen zu induzieren. Der dazugehörige Prozess heißt Lernen. Disruptive Erscheinungen können nicht mit den Denkstrukturen der Vergangenheit kompensiert werden. Jede dieser Störungen braucht eine möglichst schnelle Reaktion. Lernen muss in immer kürzerer Zeit und Just-in-Time erfolgen. Junge Politiker haben schnell die Vorteile von Chat Applikationen erkannt und zu nutzen gelernt. Dann kam die Staatsanwaltschaft und hat gesetzeswidrige Kommunikation darin erkannt und geahndet. Eine massive Störung in der Kommunikation. Jetzt gilt es möglichst schnell zu Lernen und andersartige Kommunikationsstrukturen zu entwickeln. Wer das am schnellsten kann wird von der Umwelt durch Energie / Wählerstimmen belohnt.

Programm der Systeme: Codex

Systeme, vor allem autopoietische sind operativ in sich geschlossen. Trotzdem sind sie in der Lage untereinander zu interagieren. Dazu führt Luhmann den Begriff und die Funktionalität des Programmes ein. Jedes System ist auch gleichzeitig Beobachter einerseits von sich selbst und andererseits seiner Umwelt. Wenn nun zwei Systeme interagieren, so fokussieren sich die jeweiligen Beobachter auf einen externen Kopplungsmechanismus- dem Programm. Man könnte diesen auch als Codex bezeichnen, der von beiden Seiten gelesen werden kann. Dazu ist es erforderlich, wie Abbildung 5A gezeigt, dass ein Beobachter die Bedeutung des Codex erkennt. Er muss diesen also lesen und interpretieren können.

Abbildung 5

Auch wenn ein System das Programm lesen und seine Bedeutung verstehen kann, reproduziert es immer nur gleichartige Elemente aus den eigenen Elementen. Es kommt dadurch nichts Fremdartiges in das System hinein. Das wohl markanteste Beispiel dafür ist die Psyche.  In der Interaktion mit einem anderen Menschen also mit einer anderen Psyche entstehen bei mir Gedanken, die aber keinesfalls die gleichen des anderen sein können.  Das gemeinsame der beiden Systeme also das Programm /der Codex ist die Sprache. Aber auch Texte, Bilder, Musik oder Gestik können diese Funktion übernehmen. Im Falle der Sprache sind es die Sätze, die aus Wörtern und diese wiederum aus Lauten zusammengesetzt sind. Um nun die Sprache eines anderen zu verstehen ist ein ganz spezieller Codex zu erlernen. Ich muss diese Sprache sprechen können.

Die Interaktion zwischen Menschen und Computersystemen war bisher ziemlich aufwändig. Man musste schreiben, eine Tastatur und Mouse bedienen können. Aktuell, mit der Entwicklung von maschinellem Lernen kann man sich über natürliche Sprache mit diesen Systemen verständigen. Man könnte sagen, dass Computer die sprachliche Kopplung zum Menschen geschafft haben. So spricht Siri in der Zwischenzeit schon zehn verschiedene Sprachen und kann diese auch untereinander Übersetzen. Damit ist ein Kopplungsmechanismus entstanden, der eine Verständigung über Sprachgrenzen hinaus erlaubt. Es ist absehbar, dass sich bald alle Menschen der Welt über einen Super-Codex, Siri, verständigen können und das sogar live.

Menschen haben mit Gesetzen, Verordnungen, Parteiprogramme und Bedienungsanleitungen Kopplungsmechanismen geschaffen worüber Interaktionen zwischen Teilen der Gesellschaft möglich sind. So sollten sich Gesellschaften egal welcher Nation, Religion, Ethnie, usw. sie angehören, über das Programm der Menschenrechts Konvention verständigen können. Ein einfacheres Beispiel ist die Kopplung zwischen einem Automobilhersteller und einem Infrastrukturunternehmen wie Abbildung 5B zeigt. Die Straßenverkehrsordnung (StVo) ist deren Programm. Beide Systeme beobachten mit jeweils ihren eigenen Juristen die StVo. Obwohl beides Juristen sind, kommen sie doch zu sehr unterschiedlichen Bedeutungen. Jedes System stellt sich die Frage “was bedeutet das für mich”. Entsprechend seiner begrenzten Möglichkeiten erzeugt es nur Element die dessen Struktur erlaubt. Wenn es in der StVo heißt: “Fahrstreifen dürfen nicht verlassen werden” so pinselt die Infrastruktur Sperrlinien auf die Straße und der Automobilhersteller baut eine Spurwechselassistenten ein. Zur Einhaltung von Geschwindigkeitsgrenzen stellt die Infrastruktur Temposchilder auf und das Auto bekommt einen Tempomat mit Verkehrszeichen- Erkennung.

Systeme sind sehr stabil, während Programme adaptierbar sind. Möchte man das Verhalten einer Gesellschaft oder das Denken eines Menschen von außen verändern könnte man an der Kopplung ansetzen. Für Frauenrechte braucht es sowohl eine Verankerung in der Verfassung als auch eine Veränderung in den Denkstrukturen der Menschen (Männern und Frauen). Wie das Beispiel Afghanistan zeigt, reicht das aber immer noch nicht aus. Programme sind zu wenig, es braucht dazu irritierend Signale aus dem Umfeld. Weil man aber nicht genau weiß, was das Denken muslimischer Männer als Störung empfindet, bleibt nur Versuch und Irrtum übrig. Was Amerikaner und Russen jahrzehntelang versuchten. Ihre jeweiligen Abzüge haben das Scheitern verdeutlicht. Also Nachdenken darüber was derartige Systeme stören könnten und neue Programme entwickeln.

Code der Systeme:

Parteiprogramme sind so einfach gehalten, dass sie von jedem verstanden werden. Trotzdem finden sie in der Gesellschaft keinen gesamtheitlichen Anschluss. Manche (die Parteimitglieder) halten den Inhalt für richtig andere wiederum für falsch. Obwohl die Wirkung einer Corona Impfung nachgewiesen ist, sind Teile der Gesellschaft der Meinung sie wäre gut, andere wiederum halten sie für schlecht. Das was ein Beobachter aus einem Programm herauslesen kann, mag vielschichtig sein. Anschluss findet jedoch nur dasjenige was ein Filter, der Binäre Code durchlässt. Ein Code mit ausschließlich zwei Werten wie wahr /unwahr, recht / unrecht, passend / unpassend, billig / teuer und eben auch richtig und falsch. Anschluss, also Reproduktion eigener Elemente, findet nur nach einer Seite hin statt. Der Binär Code muss aber nicht mit der sprachlichen Unterscheidung gleichlaufend sein. Nicht alles was eine positive Konnotation hat findet Anschluss. Kunden freuen sich, wenn sie billig einkaufen können; an sich gut. Trotzdem findet das keinen Anschluss, weil damit Kinderarbeit verbunden sein könnte. Damit sind billige Produkte schlecht und finden keinen Anschluss, sondern werden zurückgewiesen.

In Abbildung 6A steht POS für Anschluss und NEG für Repulsion. Da, je nach Werteverständnis positiv und negativ wechseln, sollte man in der Systemtheorie auf diese Bezeichnungen verzichten, sondern eher auf Anschluss und Repulsion setzen. Damit ist auch die deskriptive Haltung der Systemtheorie deutlich. Sie ist eben keine Wertende, sondern nur eine Beschreibende.

Abbildung 6

Eltern machen sich oft Sorgen ob ihre Kinder auch das “Richtige” lernen und damit Anschluss im Berufsleben finden können. Die beiden Systeme Schule und Unternehmen sind über das Programm Lehrplan gekoppelt.  Sofern der Lehrplan allgemein akzeptiert ist, müsste das auch sichergestellt sein. Trotzdem gibt es Zweifel. Diese liegen sowohl in der Interpretation als auch in dessen Bewertung. In der Schule sind es die Lehrer und in Unternehmen die Personalleiter, die diese Wertung vornehmen. Ein Lehrer kann zum Schluss kommen, dass bestimmte Teile des Lehrplans wichtiger und andere weniger wichtig sind. So lernen Kinder in Abhängigkeit von Lehrern und Schulen trotz vorliegenden gleichen Lehrplans unterschiedliches.

Ob das nun gut oder schlecht war, zeigt sich spätestens im Einstellungsgespräch. Nun entscheidet der Personalchef, ob eine Person als geeignet oder ungeeignet erscheint, also aufgenommen oder abgewiesen wird. Jetzt hört man immer wieder das ungeeignete Mitarbeiter aufgenommen werden. Hat dann der Personalchef gegen ein systemisches Prinzip verstoßen? Nein, er hat lediglich einen anderen Binärcode angewendet. Etwa Geschlecht, Eltern, Wohnort, uvm.

Programm ist etwas, was mehreren Systemen bekannt sein kann aber nicht muss. Während Code nur dem System bekannt ist oder auch nicht. Letzteres erfordert Selbstbeobachtung.

Soziale Systeme:

Im Laufe der menschheitlichen Geschichte haben sich verschiedene Gesellschaftsformen entwickelt. Diese wurden in Teil 2 Abbildung 2 bereits behandelt. Jetzt die Erweiterung aus der Perspektive der Systemtheorie. Vor allem sind es die Mechanismen von Programm, Code und Irritation, die hier eine Ergänzung liefern. Die Universalität der Systemtheorie postuliert dessen Gültigkeit für alle Systeme. Die Interaktion von Subsystemen ist über die Kopplung gewährleistet, wobei der Unterschied im Codex der jeweiligen Programme liegt. Auch die Codierung bleibt stets binär aber mit alternierender Wertigkeit. Während es in einer Gesellschaftsform richtig ist auf die Meinung eines einzelnen zu hören ist genau das in einer anderen Gesellschaft nicht richtig.

Abbildung 7

In einer Agrar / Archaischen Soziologie ist es der Dorfälteste, der Schamane, der Häuptling usw. der über den Binärcode entscheidet. Nur er sagt was richtig und falsch ist. Alle anderen richten sich danach. Es geht also darum wer sagt etwas (Abbildung 7A). Der Kopplungsmechanismus zwischen Familien, Sippen und Dörfer findet sich in Mythen, Traditionen, und Religionen wieder. Störungen entstehen, wenn sich Subsysteme nicht mehr an den Code halten oder das Programm anders interpretieren. Sie spalten sich ab und erzeugen neue Gemeinschaften gleichen oder aber neueren Typs. Die Historische Disruption die den Übergang von der Segmentierten zur Strategischen Ordnung bewirkte war die Erfindung der Schrift.

Jetzt war man nicht mehr auf die Codierung einer Person angewiesen. Immer mehr Mitglieder einer Gesellschaft, die also lesen konnten, waren in der Lage ihre eigenen Interpretationen und Bewertungen vorzunehmen. Die Programme waren jetzt zu lesen. Große antike Werke wie Homers Odyssee zeugen davon. Obwohl, die Interpretation blieb hierarchisch organisiert.  Es war also nicht egal aus welcher Position / Rolle etwas gesagt wurde. Die Interpretation der Bibel war zumindest bis Martin Luther der kirchlichen Hierarchie vorbehalten. Ein Wort aus Rom hatte einfach mehr Bedeutung als das eines Mönches aus Erfurt. Hierarchien zeichnen sich durch die Unabhängigkeit von Rolle und Person aus. Die Rolle eines Kaisers hat sich über Jahrtausende gehalten, während die Inhaber wechselten. Auch in heutigen modernen Unternehmungen ist die die strategisch / hierarchische Organisationsform dominant. Die einzelnen Organisationen sind über Protokolle (Abbildung 7B) untereinander gekoppelt. So besteht von unten nach oben die Reporting Pflicht und umgekehrt werden Anweisungen gegeben. Der Buchdruck wird allgemein als großer Bruch in der Gesellschaftliche Entwicklung gesehen. Es können Funktionsbeschreibungen gedruckt und Bedienungsanleitungen gelesen werden. Menschen wurden dadurch ermächtigt Berufe zu erlernen und Funktionen in einer Gesellschaft auszuüben.

Mit der ersten industriellen Revolution (=Disruption) nahm die Funktionalisierung (Abbildung 7C) der Gesellschaft Fahrt auf. Anfänglich waren es einzelne Unternehmen, die für ein spezielles Problem Lösungen bereitstellten. Zwischenzeitlich und aufgrund der technischen Vielfältigkeit braucht es zur Erstellung eines Produktes immer mehrere spezialisierten Unternehmungen. Autos und Smartphones sind wahrscheinlich die am meisten verbreiteten Produkte. Weder Mercedes noch Apple sind in der Lage diese als Einzelunternehmen zu realisieren. So sind am Endprodukt” iPhone” 350 Zulieferunternehmen beteiligt. Für die Kopplung funktionaler Gesellschaften ist der Markt verantwortlich. Was nicht nachgefragt wird, wird auch nicht produziert und was nicht produziert wird kann auch nicht gekauft werden. Die Deutungshoheit, also die Codierung davon was etwas Wert ist geht vom Generalisten zum Spezialisten über.  Es wird niemandem mehr zugestanden ein Richtig oder Falsch zu verallgemeinern. Wer kann also zu einem Thema etwas sagen ist wichtiger als wer sagt etwas dazu. Funktionale Gesellschaften sind immer auf der Suche nach jemanden der eine Lösung für sein Problem hat und wer genau das am billigsten macht. Eine gute Voraussetzung dafür ist eine Netzwerkorganisation. Die aktuelle gesellschaftliche Disruption, die Erfindung des Internets ermöglicht genau diese Form.

Strukturell gesehen konstituieren sich Netzwerke aus Knoten und Kanten. In der Gesellschaft durch Akteure und deren Verbindungen repräsentiert. Das Potential eines Akteurs resultiert aus der Anzahl der Verbindungen, über die er zeitgleich andere Akteure erreichen kann (Abbildung 7D). Der social Media Influencer erhält seinen Wert entsprechend der Anzahl seiner Follower und vor allem derer die er zum Handeln und zum Erleben befähigt. Einem Akteur in einem Netzwerk stehen Lösungen, selbst zu unbekannten Problemen zur Verfügung (YouTube). Weiters hat er weltweiten Zugriff auf nahezu alle Produkte und Dienstleistungen (Amazon, Alibay). Wissen hat man nicht mehr im Kopf, sondern man weiß vielmehr, wo man es herbekommt. Nicht mehr “Haben zu müssen”, sondern “Zugriff zu haben” ist das Paradigma moderner Gesellschaften. Im Prinzip ermöglicht das Internet eine Verbindung von jedem zu jedem, zumindest über sechs Konten hinweg. In dieser Dimension ist es für Akteure, selbst für Facebook schwierig zu Handlungen zu generieren. Vielmehr ist es die “Small World Architektur” die eine Kopplung erst ermöglicht. Kleine Netze (Freunde) mit einigen “longdistance” Verbindung machen Akteure wieder handlungsfähig. Eine Werbebotschaft an alle (TV) ist bei weitem weniger wirksam, als wenn sie auf eine Zielgruppe fokussiert. Genau das ermöglicht eine “small World” in einer “large World”. Gruppierungen mit gleichen Interessen werden eingerichtet, Nachrichten im Freundeskreis unmittelbar getauscht (WhatsApp) oder gemeinsame Handlungen (z.B. Demonstrationen) organisiert. Die Unterscheidung, also der Codec von Wahr und Falsch ist durch den “Like Button” einfach geworden. Sofern wir damit in unseren Gedanken bestätigt werden, bleiben wir in der Gruppe, ansonsten verlassen wir diese. Und das ohne Ahndung.

Eine moderne Gesellschaft ist aber nicht ein exklusiver Type von den oben Vorgestellten sondern entspricht eher einer Vermengung derselben. Bei statischen Befragen nach den eigenen Werten stehen häufig Freunde und Familie an erster Stelle (Agrarisch). Gefolgt von Sicherheit, was auf eine hierarchische Formung hinweist. Außerdem möchte man nachhaltige Produkte kaufen (Funktional) und Zugriff auf alles Mögliche haben (Netzwerk).

Es ist schon Paradox, dass sich Gesellschaft zur Vereinfachung ihrer komplexen Umwelt entwickeln und dabei immer komplexer werden. Einhergehend mit der Veränderung von Gesellschaften entwickeln sich auch neue Formen von Kommunikation und daraus wiederum Bewusstseinsänderungen.  Genau das werden wir im nächsten Kapitel bearbeiten.

Erkenntnisse:

Systemtheorie – ein Analysetool zur Beschreibung von Systemen

Komplexe Fachsprache – ist abweichend von der Alltagssprache

Kernaussage ist die Differenzierung – zieht sich durch

Elemente erzeugen sich aus den Elementen, aus denen sie bestehen

Autopoietische System sind operativ geschlossen

Irritationen machen Veränderung möglich

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