Das Leid als ein Thema aller Weltreligionen

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Für die christliche Tradition ist das „Leiden und Sterben Jesu Christi“ eine zentrale Glaubensbotschaft und beinhaltet eben Leid und Schmerz. In der unmittelbaren Nachfolge Jesus sind sehr viele Menschen denselben Weg als Märtyrer gegangen. Obwohl in der religiösen Vorstellung Jesus damit alle Menschen erlöst hat, wurde und wird dieser Weg trotzdem noch nachgeahmt. Etwas später im 3. Jh. nach Christus, zogen tausende Menschen in die Wüste, um dort ebenfalls unter Schmerzen ein asketisches Leben zu führen. In einer späteren Epoche – dem Mittelalter – war ebenfalls Leid und Schmerz alltäglich. Einerseits durch Krankheiten, denen man nicht auf naturwissenschaftlichem Wege entgegnen konnte und andererseits durch die Gewalt der Herrschaftsausübung. In der Neuzeit ist der Holocaust ein ethnisches Drama von Schmerz. Viele Religionen und vor allem die Missionierenden haben andere Völker großes Leid zugefügt. Sowohl Christentum als auch Islam stehen hier in „guter“ Position. Auch die Kolonialisierung hat viele Opfer in amerikanischen und afrikanischen Ländern gefordert. Diese Nicht-Erfahrung entfremdet uns immer mehr vom Leben in der eigentlichen Realität. Im heutigen sogenannten Westen und vor allem dort, wo die Medizin weit fortgeschritten ist, braucht ein Mensch kaum mehr körperliche Schmerzen erdulden. Eine Betäubungsspritze beim Zahnarzt ist schon heftig. Normalerweise haben heute junge Menschen noch kaum die Erfahrung von Schmerz oder Leid aufgrund physischer Einflüsse erfahren „…den Fäden des Leides in unserem Leben folgen, denn sie sind es, die uns unweigerlich zum Ursprung unserer Essenz führen.“ Spannbauer – Im Haus.

Das Fehlen dieser Erfahrung am eigenen Körper führt weiter zu einer Reduzierung der empathischen Fähigkeiten. Man kann dies an extremen Jugendgruppen erkennen, die mit roher Gewalt und ohne Ursache auf andere Menschen losgehen. Es: „… bildet die Sensibilität für Leiden, das eigene und jenes der anderen, die Grundlage der säkularen Ethik. Unter den als moralisch anerkannten Forderungen betreffen die vielleicht dringendsten und überzeugendsten die Achtung vor dem Leben, der Integrität und dem Wohlergehen – ja, dem Gedeihen – der anderen.“ Bader – Weltethos 155.

Die Erkenntnis und die Erfahrung von eigenem Leiden führen auf jeden Fall dazu, mehr Achtung vor jedem Lebewesen zu haben. Die naturwissenschaftliche Entwicklung der modernen Medizin hat sehr viel Leid und Schmerz eliminiert. Viel mehr als jede Esoterik hat die Medizin derzeit einen Stand, dass Schmerzen nicht mehr erduldet werden müssen. Dies trifft allerdings nur auf die westlichen Konsumstaaten zu, obwohl mit relativ geringem finanziellem Aufwand Erleichterungen für die gesamte Menschheit geschaffen werden könnten. Angeführt werden Krankheiten wie Krebs und Aids, die noch nicht schulmedizinisch geheilt werden können, aber und das ist wichtig, in kaum nachweisbaren Fällen durch Alternativmedizin. „Wenn es um Seuchen, Hunger, Krankheit und Kindersterblichkeit geht, hat die rationale Wissenschaft mehr ganz konkretes menschliches Leid gelindert als alle prärationalen, mythischen Religionen zusammen.“ Wilber – Integrale 141.

Die empirische Medizin hat sich vor unserer Zeitrechnung in Indien und in anderen antiken Hochkulturen gut entwickelt. Dieses Wissen ist über die Verbreitung des Islams nach Europa gekommen und leider ab dem 12. Jh. wieder in Vergessenheit geraten. Man konnte damals – wenn auch sehr langsam – globale Kommunikation erkennen. Die besondere Einstellung zu Leid und Schmerz hat der Hinduismus. Die Vorstellung, dass die Welt eine Illusion (Mayer) sei, beinhaltet auch, dass Leiden nicht die Wirklichkeit sind. „Wenn wir also lernen, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind, dann sind wir in gewisser Weise immer frei vom Leiden, selbst wenn wir große Schmerzen haben. Und wenn wir erkennen, dass Leid nichts Persönliches ist – auch wenn wir immer wieder versucht sind, es sehr persönlich zu nehmen – können wir zu einem weisen und mitfühlenden Umgang mit unserem Leid gelangen.“ Spannbauer – Im Haus 23.

Nachweislich kam es in der Geschichte immer wieder dann zu gesellschaftlichen Umbrüchen, wenn Arm und Reich aufeinandertrafen und diese zumindest von der benachteiligten Seite erkannt wurde. Auch dafür kann das europäische Mittelalter ein Beispiel geben. In dieser Zeit entwickelten sich reiche Städte neben der armen Landbevölkerung und dieses wurde erkannt, worauf es zu massiven spirituellen Umbrüchen kam. In einer hochvernetzten globalen Welt leben ebenfalls arme und reiche Menschen zusammen, zwar nur virtuell aber trotzdem nebeneinander. Derzeit haben wir den Eindruck, dass die Kluft zwischen Arm und Reich sich verschärft. Es verbessert sich zwar die Lage von besonders armen Menschen zwar ein wenig, aber die Reichen werden noch reicher. „Das Problem von Slumbildungen mit Armenproletariat und Straßenkindern wird sich in der Dritten Welt weiter verschärfen, die Schere zwischen Arm und Reich sich noch weiter öffnen.“ Leopold Heinrich – Globalisierung und integrales Bewusstsein, Der Beitrag Jean Gebsers zu einer neuen Weltsicht, Schaffhausen 2008, 215.

Sofern sich historische Ereignisse möglicherweise wiederholen, wäre genau dieses Arm-Reich-Problem möglicherweise ein Auslöser für eine spirituelle Wende. Die Menschen in den Wohlfahrtsstaaten wiegen sich, wie der Name schon sagt, in Sorglosigkeit. Bei der benachteiligten Gruppe führt dies durch globale Informationssysteme zu immer mehr Bewusstsein über die ungerechte Ressourcenverteilung. „Die Kluft zwischen Arm und Reich, die sich weiter vertieft, führt zu Erbitterung bei jenen, die durch die Modernisierung verlieren.“ Bader – Weltethos 152.

Diese haben jedoch zwar materiell und nur vorläufig verloren – spirituell, ethisch und moralisch ist dies nicht zwangsläufig so, da mag es durchaus umgekehrt sein. „Die Lage dieser Menschen ist besonders ungerecht, da ihre Herkunftsländer zur Klimakatastrophe kaum etwas beitragen, aber am meisten darunter leiden.“ Rifkin – Die empathische 325.

Menschen der Dritten Welt leiden eben nicht nur an Hunger und Krankheiten, sondern verspüren meist sehr schmerzlich Auswirkungen, deren Ursachen in den Industrieländern liegen. Meist sind dies Umweltkatastrophen, Ausbeuten und Landwegnahme. Die globale Gesellschaft wird etwas entwickeln müssen, welches man als globale Empathie bezeichnen könnte. Möglicherweise sind es die derzeitigen bekannten Probleme, die dazu den Anstoß geben könnten. „Vielleicht für die weltweite Krise aber auch zu einer gewaltigen Ausweitung des empathischen Bewusstseins, weil letztendlich alle im selben Boot sitzen.“ Rifkin – Die empathische 415.

Das Bewusstsein darum ist zwar weltweit vorhanden, die wirklich verantwortlichen Staaten spüren aber von dem noch wenig und deshalb ist auch kaum eine Veränderung spürbar. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es global 47 kriegerische Auseinandersetzungen. Auch davon hat sich die Welt noch nicht befreien können. Wir leben offensichtlich noch immer in einer dualen Welt, die zwischen Gut und Böse und Freund und Feind unterscheidet. Die „… Sensibilisierung für die Leidensdimension der Menschen in allen Kulturen – um die Identifikation mit dem Anderen, mit dem Fremden bis hin zum Feind.“ Bader – Weltethos 147.

Der sogenannte Feind ist immer noch derjenige, den man mit Gewalt und damit verbundenen Schmerzen bekämpfen muss. In diesem Zusammenhang sagt die indische Einheits-Philosophie nach dem Kernsatz der Advaita Vedanta „Das bist DU“. Einfach übersetzt bedeutet das, dass alles, was du einem anderen zufügst, in Wirklichkeit dir selber antust. “Denn wir werden erkennen, dass du ich bist. Wieso also sollte ich dir etwas zuleide tun?“ Spannbauer – Im Haus 84.

Das wird eine ganz wesentliche und entscheidende Entwicklung für den globalen Menschen sein. „Es braucht eine sehr tief greifende Einheitserfahrung, bis der ganze Mensch so gewandelt ist, dass er kein Leid mehr verursacht.“ Spannbauer, Im Haus 78

Wie die Geschichte aller großen religiösen Traditionen gezeigt hat, ist Leiden und Schmerzen etwas Spirituelles. Die Unterschiede liegen lediglich im Umgang damit. Auch in einer entstehenden globalen und materiellen Welt wird es trotz enormer medizinischer Fortschritte immer noch Leid und Schmerzen geben. Neue bis heute noch völlig unbekannte Krankheiten und Seuchen sind denkbar. Die Verbreitung letzterer ist aufgrund der klein gewordenen Welt sehr rasch möglich. Bisher noch nicht erwähnt wurden seelische Leiden und Schmerzen, die es vielfach in modernen Industriestaaten gibt. Beispielsweise sind zu erwähnen Burn-out, Depression, Einsamkeit und viele mehr. Gerade diese genannten sind Themen, denen sich Religionen annehmen könnten und auf Basis einer gelebten Spiritualität Abhilfe bringen könnte. „Die spirituelle Hinordnung auf ein Größeres Ganzes trägt damit zur Rehabilitation der vertikalen Bedeutung von Krankheitszuständen bei und fördert die Frage nach dem Sinn der Krankheit. Sie äußert sich insbesondere darin, dass aus der Frage – warum bin ich krank geworden? die Frage – wozu bin ich krank geworden? entwickelt werden kann.“ Bader – Weltethos 219.

Viele Menschen, die einfach im Wohlstand und im Konsum so dahinleben, stellen sich erstmals die Frage nach dem Sinn des Lebens, wenn sie krank werden.

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