1.10 DigiTopia – Relativismus

Der Begriff Realität wurde mit den wissenschaftlichen Arbeiten der „allgemeinen und speziellen Relativitätstheorie“ von Albert Einstein bekannt. Seit daher wissen wir, dass Zeit in Abhängigkeit/relativ zur Geschwindigkeit vergeht. In diesem Zusammenhang hat Einstein auch nachgewiesen, dass Lichtgeschwindigkeit etwas Absolutes ist und sich sonst nicht schneller ausbreiten kann. Neben der Lichtgeschwindigkeit gibt es noch einige andere Naturkonstanten, wie zum Beispiel absoluter Nullpunkt, Gravitationskonstante, plancksches Wirkungsquantum, usw. die als absolut gelten.

Dem gegenüber ist in den Geisteswissenschaften das Relative die heutige Denkrichtung und das bezeichnet man als Relativismus. Insbesondere im kulturellen, sozialen und politischen Umfeld ist Relativismus allgegenwärtig.

Themen wie Normen, Ethik, Ästhetik und auch die diesbezügliche Wahrnehmung sind weltweit sehr unterschiedlich und auf keinen Fall absolut. Es gibt also keine globale Ästhetik. Möglicherweise, und das ist sehr unwahrscheinlich, gibt es einen kleinsten gemeinsamen Nenner für Ethik. Sofern man sich mit dieser oder ähnlicher Thematik beschäftigt, kann man nur dann eine gültige Aussage treffen, wenn man den jeweiligen Bezugsrahmen kennt. Man kann sich im säkularen Europa durchaus und auch in der Öffentlichkeit über die Nichtexistenz Gottes outen. Genau das geht in islamischen Kulturen nicht. In sehr fundamentalistischen Systemen kann dies zu Freiheitsentzug und noch schlimmeren führen.

Stellt sich nun die Frage nach den Bezugsrahmen. Leider sind auch diese nicht absolut, sondern beschreiben einen Kontext auf den man sich einigen könnte. Beispiele dafür wären Regionen, Kulturen, Techniken, Zeitgeist, uvm. Man könnte sich dann darüber einigen, dass in der einen Kultur außereheliche Beziehungen ganz normal sind, während es in anderen Kulturen zu Todesstrafen führen kann. Damit wäre die Möglichkeit einer „außereheliche Beziehung“ relativ zur Kultur zu sehen. Nachdem sich aber Kulturen wandeln, ist auch das relative Verhältnis zwischen den Themen dynamisch. Es ist ja nicht zwingend auszuschließen, dass in Zukunft auch in islamischen Kulturen ein anderer Umgang mit Sexualität entsteht.

Technik hat sich im letzten Jahrhundert zu einer Domain entwickelt auf die sich viele andere Themen relativ beziehen. Während es weltweit kein Problem ist, sofern man es sich leisten kann, Autos als Fortbewegungsmittel zu verwenden, ist das in der Kultur der Amische völlig undenkbar, obwohl diese Kulturgruppe nicht jede Technik ablehnt. Sämtliche Maschinen, die von Menschen oder Tieren angetrieben werden, sind wiederum erlaubt. Die technologische Entwicklung hat uns nunmehr die digitale Welt beschert, diese damit verbundenen Einflüsse auf alle Lebensbereiche sind ebenfalls wieder relativ zu sehen. Die digitale Domain ist deshalb bedeutsamer, weil sie den gesamten globalen Raum umfasst. Die Verwendung von Digitaltechnik ist weltweit gleich und damit entwickeln sich auch sehr uniforme Verhaltensweisen und Fähigkeiten. Sehr anschaulich kann dies an der Bedienung von iPhones gezeigt werden. Der Zwei-Finger-Touch ist weltweit einheitlich. Mit der digitalen Technik entsteht ein sehr homogener, globaler Bezugsrahmen. Sprachassistenten, Augmented Reality, Autonavigation, usw. erfordert von allen Menschen die gleichen Skills und damit entwickeln sich globale Fähigkeiten und Verhaltensweise und daraus wiederum entsteht eine globale Kultur. Mit dieser Schlussfolgerung ist noch einmal nachgewiesen, dass die Kultur immer eine Folgeerscheinung von Technik ist.

Relativismus

Im obigen Bild sind die Bezugsrahmen „Zeitgeist, Region, Kultur, Technik und Digital“ als Spalten dargestellt. Die Zeilen „Normen, Ethik, Ästhetik und Wahrnehmung“ sind verschiedene Merkmale aus dem sozialwissenschaftlichen Bereich. Die Merkmale haben dann in einzelnen Feldern Ausprägungen, die relativ zur Domain sind.

Normen: Sind meistens ungeschriebene Vereinbarungen über Verhaltensweisen, die bei Nichteinhaltung sanktioniert werden. Beispielsweise sind die Vorstellungen/Normen über Nahrungsmittel auch sehr abhängig. In Europa hat uns der Zeitgeist die Bio-Welle beschert. Für Menschen ab einem bestimmten Einkommen/gesellschaftlichen Status ist es Norm, Bio-Lebensmittel zu kaufen. Diese sind meistens etwas teurer als Produkte aus der Massenproduktion. Ein europäischer Landwirt, der mit einer chemischen Unkrautvernichtungsmaschine unterwegs ist, wird schon sanktioniert. In Nordamerika ist es wiederum ganz normal, dass große Pharma sich der chemischen Schädlingsbekämpfung bedienen. Mitunter entwickelt sich zwischenzeitlich eine Subkultur zur Bionorm und das sind die Veganer. Menschen, die aus ethisch, moralischen Gründen den Verzehr des tierischen Eiweißes ablehnen. Damit entsteht für die Nahrungsmittelindustrie ein sehr differenzierter Markt – vom Veganen über Bio bis zu den Billigprodoukten muss alles verfügbar sein. Die Agrartechnik könnte da einiges in Zukunft entschärfen. Mit der mechanischen Unkrautbekämpfung würde man einen wesentlichen Schritt hin zu Bio erfahren. Die Digitalisierung wird diesen Trend noch zusätzlich unterstützen. Mit genauester Satellitenverortung kann man bereits jedes Fähnchen kontrollieren und die aktuellen Biowerte von Rindern monitoren. Biowahre wird dann im digitalen Biohofladen gekauft.

Ethik: In westlichen, sehr konsumlastigen Gesellschaften entspricht Tiernahrung dem Zeitgeist. Es ist ganz üblich, dass in Supermärkten diese Produkte angeboten werden. In afrikanischen Regionen, in denen die Kindersterblichkeit über 50 % liegt und permanent Hunger herrscht, kann für Tiernahrung kein Verständnis aufgebracht werden. Haustiere haben in verschiedenen Kulturen auch unterschiedlichen Stellenwert. Selbst auf europäischen Bauernhöfen wurde der Hofhund geschlagen und misshandelt. Während viele Paare anstelle von Kindern sich bereits Haustiere halten. Im technischen Frame ist eine Massentierhaltung durchaus denkbar, wogegen sich der Zeitgeist immer mehr sträubt. Haustiere sind zwischenzeitlich so wertvoll geworden, dass sie mit digitaler Unterstützung eine permanente Verortung bekommen. Dieses Beispiel vom Umgang mit Tieren zeigt die hoch differenzierte Ethik in den verschiedenen Domainen. Richard David Precht hat das Problem der „Tierrechte“ in seinem Buch „Tiere denken“.

Ästhetik: Was schön, ansprechend oder abstoßend und ekel erregend ist, hängt ebenfalls von der Domain ab, in der man sozialisiert wurde. Als Conchita Wurst beim Songcontest 2014 gewann, hat das den Zeitgeist beeinflusst. Seit daher ist es durchaus möglich, zumindest im künstlerischen Bereich, dass Männer sich im Frauenoutfit präsentieren. Natürlich ist das nicht überall möglich, aber die Loveparade gibt es auf jeden Fall in Wien und in Berlin. Dort präsentieren Menschen ihren Körper in höchst künstlerischer und ansprechender Weise – das ist mein persönliches Empfinden. Ein Muslime oder ein Puritaner würde dabei ein abstoßendes oder ekelerregendes Gefühl bekommen. Umgekehrt treffen die afrikanisch/thailändischen Langhalsfrauen auch nicht unser Schönheitsideal. Offensichtlich gibt es ein kulturbezogenes Schönheitsideal dem man nachkommen möchte. Die Technik leistet hier wieder Hilfe. Schönheitsoperationen sind in der westlichen Welt durchaus schon ästhetisch (nicht alle vertretbar). Wer sein körperliches Erscheinungsbild ohne Eingriffe verändern möchte, der behilft sich der digitalen Technik und generiert seine personal Emojis.

Wahrnehmung: Eigentlich müsste man meinen, dass aufgrund der biologischen Gleichartigkeit der Sinnessysteme alle Menschen das gleiche wahrnehmen. Genauso ist es aber nicht. Hinter den Sinnessystemen sind soziale und kulturelle Filter angeordnet, die den Realitätsausschnitt bis zur Unkenntlichkeit verzerren. In Zeiten des großen Wirtschaftswachstums hat kein Mensch die damit verbundene Umweltverschmutzung wahrgenommen. Erst als man im Böhmerwald Nadelbäume ohne Nadeln sah, hat sich der Zeitgeist geregt und die Grünbewegungen entstanden. Ja – der Grüne Politik haben wir im Nachhinein gesehen sehr viel zu verdanken. Umweltverschmutzung kann sichtbar sein, ist heute aber meistens nicht mehr wahrnehmbar. Feinstaub, CO2, usw. sind unmittelbar nicht erkennbar. Auch in den einzelnen globalen Regionen ist die Wahrnehmung für Verschmutzung unterschiedlich. Sehr unverständlich ist die Verschmutzung von Wasser in den südlichen Ländern. In Kairo wird der Müll bedenkenlos in die Rinnsale gekippt, obwohl dort Trinkwasser ein höchst rares Gut ist. Im europäischen Raum ist es Kultur, den Müll zu trennen. Daraus ist bereits eine soziale Norm geworden. Wer im Altstoffsammelzentrum erwischt wird, dass er die farbigen Glasflaschen im Weißglas entsorgt, wird sehr schnell angesprochen (geahndet). Auch bei sorgsamen Umgang mit Müll lässt sich dieser derzeit noch nicht vermeiden. Die offensichtlich beste Methode ist derzeit die technologische Entsorgung in Form von Verbrennung. Offensichtlich haben wir dafür noch keine Wahrnehmung, dass hier Prozesse laufen, die eben nicht richtig sind. Ziel kann nur sein den Müll entweder völlig zu vermeiden oder ihn vollständig zu recyceln. Digitale Müllsortieranalgen und Recyclingprozesse sind im Entstehen. Die digitale Domain wird wahrscheinlich auch bei der Wahrnehmung von Abfall eine große Rolle spielen.

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