Chengdu – Realität und Imagination

Eine Bewegung in zwei Richtungen

Nach einem starken und auch erfolgreichen Arbeitstag im Auto auf der Fahrt nach Hause. Entspannung kommt auf und ein leicht meditativer Zustand tritt ein. Ich fahre die Straße entlang wie auf einer Linie durch Landschaft. Plötzlich habe ich das Gefühl nicht nur in die eine Richtung zu fahren, sondern gleichzeitig auch in die Breite, also seitwärts zu fahren. Was ja zumindest physikalisch undenkbar ist.

Jede Bewegung im Raum folgt nach einer Linie. Der Punkt, sei es ein „Transporter“ hat zu einem Zeitpunkt nur die drei Freiheitsgrade: vor, rück, seit, hoch oder tief. Derzeit ist kein Fortbewegungsmittel bekannt mit dem man zur gleichen Zeit in mehrere Richtungen fahren könnte. Auch wenn nach Einstein der Raum gekrümmt ist, bleibt es eine Linie diesen Freiheitsgraden der Bewegung. Ein Lichtstrahl oder ein Raumschiff macht dann eben einen Bogen.

Formel 1 Rennfahrer ziehen Runden auf der Rennstrecke und schließen damit eine Fläche ein. Nichts desto trotz bleiben sie immer auf einer Linie in einer Richtung. Die Erde bewegt sich um die Sonne, diese wiederum in der Milchstraße. Auf Grund der Ekliptik des Sonnensystems, also der Schrägstellung zur Galaxie verläuft die Bewegung der Erde nach einer Helix. Sie umschreibt also den Raum einer Röhre. Trotzdem bleibt sie immer nur auf einer Linie.

Reale Möglichkeiten sich in zwei Richtungen zur gleichen Zeit zu bewegen gibt es bis dato nicht. In tiefer Meditation, wenn ein Gefühl der Verbundenheit eintritt könnte man so eine Erfahrung schon machen. Menschen mit solchen oder ähnlichen Erlebnissen können diese eben nicht beschreiben, weil sie außerhalb unseres sensorischen Horizontes liegen.

Mathematiker standen schon im 16. Jhdt. vor dem Problem, Lösungen zu suchen die nicht im Definitionsbereich der realen Zahlen lagen. Letztendlich wurde das System der imaginären Zahlen entwickelt. Ein Zahlenstahl der senkrecht zu den realen Zahlen steht und eine Folge aus negativen Wurzeln ist. Es ist schwierig vorzustellen, aber man kann gut damit rechnen.  Letztendlich hat man damit mehr Freiheitsgrade zur Verfügung.  Gelöst ist damit das Problem aus mathematischer Sicht. Ob man sich gleichzeitig im realen und imaginären Raum bewegen kann bleibt offen.

Einen Eindruck von gleichzeitiger Bewegung in der Realität und im Imaginären erhält man bei einer U-Bahn Fahrt auf der Linie 1 in Chengdu. Die Metro an sich ist nichts Besonderes. Sie entspricht dem „State oft he Art“ asiatischer Untergrundbahnen. Diese fahren teilweise führerlos, sind extrem präzise und haben ein effizientes Informations- und Personen Leitsystem. Das Besondere erlebt man während der Fahrt bei einem Blick seitlich aus dem Fenster. Es entsteht der Eindruck, als ob man durch die Windschutzscheibe eines vorwärts fahrenden Autos schaut. Die Landschaft kommt einem entgegen. Technisch ist das mit hunderten Bildschirmen, die an der Tunnelröhre montiert sind, realisiert. Die Monitore haben etwa die Größe eines Seitenfensters eines U-Bahn Wagons. Der jeweilige Bildschirminhalt wird synchron zur Wagengeschwindigkeit weitergeschaltet. Dadurch entsteht ein Standbild worüber meistens Werbespots eingespielt werden. Fallweise läuft aber auch ein Video wie eben einer Fahrt durch ein chinesische Gebirgstal. So bewege ich mich gleichzeitig in zwei Richtungen. Einmal zur nächsten Station und gleichzeitig durch eine schöne Landschaft oder was eben gerade gezeigt wird.

Sich in der realen Welt zu bewegen entspricht der Natur des Menschen und das haben wir Jahrtausende lang gelernt. Die technologische Entwicklung der letzten hundert Jahre hat etwas verändert. Wir bewegen uns viel weniger in der Natur, sind also keine Spurensucher mehr. Artefakte sind es die unseren Lebensraum ausmachen. Städte, Autos, Flugzeuge, Einkaufszentren, usw. sind jetzt die Räume. Auch darin bewegen wir uns meist problemlos. Neu dazugekommen ist der Cyberspace. Eine Bewegungsmöglichkeit senkrecht zur realen Welt; im Imaginären. Wir bewegen uns nunmehr in die Breite und in die Tiefe gleichzeitig. Eintauchen in den Cyberspace.

imagination

China ist nun ein Land welches sich radikal sowohl real als auch imaginär weiterentwickelt. Die Großstädte wachsen weiter. Chengdu hat schon 14mio Einwohner. Hochgeschwindigkeitszüge, Autobahnen und elektrische Autos bewegen eine Milliarde Menschen. Nicht zuletzt ist der „one belt -one road“ ein Ausdruck für dieses Wachstum. Für viele, vor allem dem Westen ist es zu schnell. Gleichzeitig wächst dieses Land auch in die Tiefe. Hochauflösende Bildschirme in allen Größen und Lokationen. Die Elektronik Industrie gibt den globalen Takt vor. Halbjährlich kommen neue Smartphones auf den Markt und Smartwatches sind um 5€ zu haben. Entsprechend des aktuellen Wirtschaftsplanes will China im Bereich AI Weltmarkt Führer werden. Das Tempo ist beängstigend und daher der Wunsch nach Entschleunigung verständlich.

Gerade durch das Aufkommen von AI ist eine Entschleunigung im digitalen Bereich kaum denkbar. Eher umgekehrt, es wird technische Intelligenz ein starker Hebel zu dessen Entwicklung sein. Durchaus vorstellbar sind 3D Drucker, die sich selber drucken können. Damit wäre ein exponentielles Wachstum an Produktionsmaschinen gegeben und alles wird noch rasanter.

Sich auf die reale Welt zurückziehen und sich von der Digitalen abzunabeln wäre eine Möglichkeit. In Europa würde das heute auch noch ganz gut funktionieren. Die menschlichen Grundbedürfnisse können auch ohne Smartphone noch befriedigt werden. Kosten aber heute schon mehr als beim Online Händler. In China hat sich der Taxidienst DIDI weitgehend durchgesetzt. Ist billiger als das traditionelle Taxi. Bezahlen kann man allerdings nur mit WePAy. Die westliche Welt wird sich diesem Trend nicht wiedersetzen können. Eventuell mit Ausnahme einer Oberschicht die sich den Luxus von digitalfrei leisten kann.

Die Zeit zurückzudrehen wäre auch so eine Möglichkeit. Zumindest ist es auf dem realen Zeitstrahl möglich in den Rückspiegel zu schauen und sich an der guten alten Zeit zu erfreuen.  Geht das auch im imaginären Raum? Ja, dafür hat die Technik auch schon gesorgt. Während man im Cyberspace reist, ein Fenster in die Realität zu haben, das genau ermöglicht Augmented Reality. Damit weiß man zumindest was da draußen passiert.  Wie bekannt, kann navigieren mit nur Google Maps unangenehme Erfahrungen mit sich bringen. Dann steht man mit dem Auto mitten in der Fußgänger Zone. Es erscheint schon sehr hilfreich einen Anker im Realen zu haben, also gut geerdet zu sein.

Derzeit noch wenige, aber es werden immer mehr Menschen, die ihre Leinen zur Realität weitgehend gekappt haben. Synonym dafür stehen die Gamer. Wenn man männlich, jugendlich und schlecht gebildet ist, findet man hier seinen Erfolg.  Das Imaginäre hat daher eine so starke Anziehung. Unter anderem ist es der „Undo Button“ der das Leben im Cyberspace wesentlich erleichtert. Fehler werden mit einem Tastendruck wieder korrigiert.  Einen „Step“ zurück und die virtuellen Menschen Leben wieder. Ein real gewählter Politiker kann nicht einfach durch die DEL Taste wieder abgesetzt oder Tote eines Terroranschlages wieder belebt werden.  Der Realitätsverlust muss ja nicht so dramatisch sein. Mit sozialen Medien, Partnerbörsen oder Pornhubs kann man auch schon rasant auf der imaginären Linie fahren.

Um die heutige Welt halbwegs zu verstehen ist es notwendig sich in zwei Richtungen gleichzeitig zu bewegen. Eintauchen, ohne die Realität zu verlieren und Herauskommen, ohne den Anschluss zu verlieren. Auch das ist eine Erweiterung des Bewusstseins. Obwohl, das Leben ist keine U-Bahn.  Eine Fahrt in Chengdu auf der Line 1 hat trotzdem was.

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