Böse neue Welt

Werte: Third Person

Die Protagonistin spielt eine namenlose junge Frau, welche sich an nichts erinnern kann und auch nicht mehr weiß, wer sie ist. Sie erkennt an sich selber Verletzungsspuren am Handgelenk und sieht Tabletten am Boden liegen. Die Vermutung liegt nahe, dass sie einen Selbstmordversuch überlebt hat – sie ist sich aber nicht sicher. So beginnt sie sich umzuschauen und verlässt dabei ihr Haus. Sie stellt dabei fest, dass sie von allen Seiten beobachtet wird. Hauptsächlich wird sie von Schaulustigen mit Smartphones gefilmt. Hinter allen Fenstern erkennt sie Schaulustige. Keiner reagiert auf ihre Hilflosigkeit. Sie beginnt zu laufen und die „Meute“ verfolgt sie. Ähnlich wie Paparazzi die ihr Opfer verfolgen.

Sehr schnell stellt sich heraus, dass es in dieser Episode zwei Rollen gibt. Zum Ersten ist es die junge Frau, die sich an nichts erinnern kann und zum Zweiten sind es die Schaulustigen. Mit Sicherheit hat dann noch jemand ein Drehbuch geschrieben. Letztendlich gibt es dann noch den Zuschauer, in diesem Fall mich, der sich die Episode anschaut. In der ersten Phase erlebe ich an mir selber Mitleid mit der jungen Frau. Zu diesem Zeitpunkt hat mir das Drehbuch noch nicht sehr viele Anhaltspunkte gegeben, außer, dass sie sich an nichts erinnern kann und von einer Gruppe Schaulustigen verfolgt wird. Spoilerwarnung: Jetzt ist der richtige Zeitpunkt sich die Serie anzuschauen, weil die weiteren Überlegungen in dem Blog wirken nur, wenn man die Folge unbedarft gesehen hat.

Systematisch sind es die vier Rollen Es-Du-Sie-Ich. Dann gibt es das Drehbuch, welches für Ereignisse sorgt, woraus dann bei den einzelnen Akteuren unterschiedliche Zustände entstehen.

Die Story entwickelt sich und die junge Frau bekommt vermeintlich Hilfe und es entwickelt sich ein neues Ereignis: Sie wird mit verbundenen Augen in einen Wald geführt und dort sieht sie dann an Bäumen gekreuzigte Menschen hängen. In mir (3rd Person) verändert sich Mitleid zu Ärger. Bei der Protagonisten (1st Person) wird Angst zu Schmerz. Sie wird ja schon an einem Baumstamm gefesselt. Die Zuschauer (2nd Person) kommen immer mehr zu ihrem Höhepunkt. Insofern, als sie sich über die Schmerzen der jungen Frau freuen. Den Lustgewinn den sie dabei haben: Weil sie einen anderen Menschen im Schmerz sehen; typische Sadisten.

Irgendwie gelingt es der Protagonistin sich wieder zu befreien, eine Komplizin hilft ihr bei der Flucht und beide gemeinsam versuchen sie die Überwachungseinrichtungen innerhalb eines Gebäudes auszuschalten. Plötzlich und völlig unerwartet öffnet sich eine Wand und die Protagonistin findet sich auf einer Bühne vor applaudierenden Zuschauen wieder. Der Moderator erklärt ihr nun wer sie eigentlich ist, nämlich eine Kriminelle die bei der Ermordung eines Kindes mithilfe geleistet hat. Als Beweis dafür wird ihr Film und Bildmaterial vorgespielt. Während dessen kommen die Erinnerungen zurück. In mir (3rd Person) macht sich zwischenzeitlich Enttäuschung frei. Ich bin frustriert, weil aus der Verfolgten plötzlich die Angeklagte wird. Sie selber (1st Person) ist über sich selber entsetzt und bei den Zuschauern folgt nach dem sadistischen Höhepunkt die Entspannung.

3rd Person

Eigentlich könnte hier die Story zu Ende sein, wenn da nicht noch der Abspann wäre. Dabei werden wir aufgeklärt, dass es in der gezeigten Zukunft ein besonderes Strafverfahren für Angeklagte gibt. Die „Mörderin“ muss als Strafe selber leidvolle und schmerzhafte Erfahrungen mitmachen. Schmerzen, die sie jeden Tag neu durchleben muss. Damit das möglich wird, werden ihre Erinnerungen nächstens durch ebenfalls schmerzhaften Eingriff gelöscht. So kann jeden Tag in der Früh die Pain neu beginnen. Was wir noch im Abspann erfahren, ist, dass diese Qualen immer in der Öffentlichkeit stattfinden. Im Rahmen einer Show werden Zuschauer eingeladen, die sie am Leidensweg begleiten können. Diese Erkenntnis führt bei mir (3rd Person) zu einer Dissonanz. Haben sich doch meine Gefühle während des Zuschauens von Mitleid über Ärger zu Enttäuschung gewandet. Die Gefühle der 1st Person haben sich von Angst über Schmerz zu Entsetzen verändert. Die Voyeure erlebten Neugier, Befriedigung und Entspannung. Das Drehbuch mit den vier wesentlichen Ereignissen Gedächtnisverlust, Kreuzigung,  Stage break und Klärung haben bei den drei Rollen völlig unterschiedliches Erleben erzeugt.

Sich an Schmerzen anderer Menschen zu erfreuen ist bekannt und wird gemeinhin als Sadismus bezeichnet. Diese Veranlagung kann man in der realen Welt bei Unfällen und Katastrophen immer gut beobachten. Eine Verschärfung dieses Verhaltens kommt mit der Allgegenwärtigkeit von Filmenden und Fotografierenden Smartphone Besitzern hinzu. Leiden wird somit öffentlich und verbreiten sich rasend schnell über die sozialen Medien. Aktuell haben wir das mit der eingeschlossenen Fußballmannschaft in Thailand gesehen. Eine Gruppe junger Burschen machte gemeinsam mit ihrem Trainer eine Höhlenexpedition und wurden dabei eingeschlossen. Die ganze Welt konnte online die Rettungsaktion beobachten. Ja – es waren zwölf Menschen die in Lebensgefahr waren. Gleichzeitig waren am Mittelmeer hunderte Flüchtlinge unterwegs die bei der Überfahrt ertrunken sind und kein Mensch hatte dafür eine Aufmerksamkeit. Im Drehbuch von Episode 3 gelingt es sehr gut das menschliche Bedürfnis von Neugier über Schaulustig zu Schadenfreude und letztendlich zu Sadismus zu zeigen. Besonders gut ist diese Expedition für Selbstbeobachtung geeignet. Als Zuschauer vor dem Fernseher sieht man Zuschauer die ihre „perversen“ Bedürfnisse befriedigen. Durch den Handlungsstrang und mit der Aufklärung im Abspann wird einem ein Spiegel vorgehalten und die 3rd Person wird zur 2nd Person.

Die Position der 3rd Person ist eine ganz schwierige. In der Psychologischen Therapiearbeit wird sie immer dann eingesetzt, wenn man schwierige, schmerzhafte Situationen aufarbeiten möchte. Man kann sich über diesen Mechanismus in einen mentalen Zustand bringen, indem man sich selber in der „schmerzhaften Situation“ sieht ohne die Gefühle so intensiv noch einmal zu erleben.

Eine besondere mentale Leistungsfähigkeit besteht nun darin, zwischen den einzelnen Rollen zu wechseln. Man kann damit auch die eigene Wirkung auf andere und dritte durchspielen. Diese Methodik wird von Präsentatoren und Rednern eingesetzt um die Wirkung ihres Vortrages abzutesten. Eine weitere Besonderheit, die Bestrafung von Kriminellen, wird in dieser Episode angesprochen. Der Strafvollzug in liberalen Gesellschaften hat zwei Gründe: einerseits müssen Menschen, die sich kriminell verhalten aus der Gesellschaft entfernt werden – das ist dann der Strafvollzug in Gefängnissen – und andererseits sollte mit der Maßnahme eine vorbeugende Verbrechensbekämpfung sichergestellt werden. Nicht daran gedacht ist „gleiches mit gleichem“ abzugelten. In westlich, liberalen Gesellschaften ist eine Selbstjustiz nicht vorgesehen. Wir maßen uns auch nicht an der persönliche Richter über andere zu sein. Umso befremdender ist in dieser Episode der Strafvollzug der auf das Erleiden von Schmerz beim Straftäter abzielt. Allerdings ist diese Methode nicht besonders neu, sondern wurde Jahrtausende lang als Instrument der Bestrafung eingesetzt. Im sogenannten finsteren Mittelalter wurde die „hochnotpeinliche“ Befragung, also die Folter, eingesetzt, noch bevor ein Mensch straffällig war.  Wird auch heute noch in absolutistischen und religiös fundamentalistisch dominierten Gesellschaften eingesetzt.

Die Episode zeigt wie schnell sich eine offensichtlich klare Situation völlig verdrehen kann. Es sind dann jene Fälle, die wir persönlich als Dissonanz erleben – also etwas, dass völlig anders kommt, als wir es erwarten.

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